Dienstag, 28. Juni 2011

Reisetagebuch mit Mafiageschichte

Wie schon gesagt, ich habe mich in den letzten Tagen in Kalabrien rumgetrieben. Geplant war da nix, vorbereitet noch weniger. Irgendwann stand endlich unser beider Urlaub zeitmäßig fest, und wir mussten eine Woche vorher noch ein Reiseziel finden.
Süditalien wollte ich, weil ich Land und Leute sehr mag, und Kalabrien wurde es dann, weil auf Sizilien irgendwie nichts passendes zu finden war.

Dass dies eine außergewöhnliche Entscheidung gewesen sein sollte, versuchte uns dann beim Begrüßungstreffen unsere Reiseleiterin beizubiegen. (Dieses lieblich lächelnde Exemplar muss übrigens entstanden sein, als in einer Douglas-Filiale ein Edelparfum-Regal direkt auf einen Stapel Hochglanzmagazine und Reiseführer gekippt ist, welchen man dann auf einer Sonnenbank hat trocknen wollen. Sie war aber wirklich sehr nett.)

Ob unsere Bekannten uns ungläubig angeschaut hätten, als wir sagten, dass es nach Kalabrien ginge? Öhm ... nö? Warum? Ja, weil der Tourismus hier noch so jung sei, und es noch ungewöhnlich wäre hier hin zu fahren.
Kurzer Seitenblick zu den anderen zwanzig Nasen im Saale ... Nee, wie Urlauberavantgarde sehen die auch nicht unbedingt aus. Sei es drum, lassen wir ihr ihren Verschwörermoment. (Ich wusste da noch nicht, dass der US-Konsul in Neapel 2008 Kalabrien als fast failed state bezeichnet hatte, und das stillgelegte Klärwerk direkt hinter den Strand-Sonnenliegen habe ich auch erst später gesehen.)

Danach jedenfalls noch ein bissl Landeskunde und ein paar empfohlene Tagestouren, das sollte es dann auch gewesen sein. (Seit wann gibt es eigentlich keine alkoholischen Getränke zur Begrüßung mehr? Vor Jahren wurde ich auf Zypern noch mit Whiskey sour willkommen geheißen, seitdem noch 1 - 2 mal mit Sekt, aber irgendwie haben sich wohl Automatenfruchtsäfte aus Plastikbechern durchgesetzt. Eine EU-Harmonisierung?)

Egal, drei Trips gebucht (Sizilien, Stromboli und ein mal Bootstour die Küste entlang) - fein. Diese Woche ist schon mal organisiert.

Zum Hotel habe ich mich ja schon ausgelassen, da muss ich nichts mehr sagen. Aber zur Stadt noch kurz: wir mussten, um in die Innenstadt zu gelangen, an einer Kirche mit Pater Pio Denkmal und angeschlossenem Friehof entlang. Alter Schwede, dort sieht der Gottesacker aus wie eine Miniatur Einfamilienhaus-Siedlung, Respekt vor dieser Gruftkultur - wirklich beeindruckend.
Einmal war dort, also an der Kirche, ein Riesenauftrieb. Anscheinend weil da gerade ein bedeutender Geistlicher namens Rodolpho verstorben war, oder noch lebend die Kirche beehrte - keine Ahnung. Aber das Publikum war der Kracher. Das hätte Scorsese nicht besser besetzen können, wenn sie verstehen was ich meine.

Ältere, elegante Herren mit riesigen Brillen und italienischen Mamas an der Seite (oder ebenso eleganten, leicht welken Ladys), kräftige oder verwegene mittelalte Typen und natürlich die jungdynamisch gegelte Enkelgeneration mit Sonnenbrille und apartem weiblichen Anhang. Grandios! Großes Kino!

Die City selbst ist auf sympathische Art original. Kleine Gassen, alte Häuser, ein bissl was für Touris, jede Menge Aussichten und Ansichten und sie ist vor allem von den Einwohnern dominiert. Urlauber sind dort sichtbare (und hörbare!) Gäste, prägen aber (noch?) nicht das Straßenbild.
Ich weiß nicht, ob es am Wetter oder am dortigen Temperament liegt, dass die Bewohner am Abend noch einzeln oder in Grüppchen auf der Straße stehen und palavern, aber mir gefällt das sehr. Hat irgendwie was heimeliges.

Insgesamt war es jedenfalls sehr schön dort. Ich würde es guten Gewissens als Urlaubsziel empfehlen.

Das aber nur als Geplänkel. Richtig interessant wurde es, als wir auf der Sizilien-Tour unsere Reisebegleiterin mal ein bissl über Kalabrien ausfragen sollten.
Okay, man macht viel in Familie, zu Weihnachten gibts große Gelage mit explizit roten Geschenken, in der letzten Zeit durchaus illuminiert von grausigfarbenen Plastiktannen ... aber, hey - woran denkt man denn zuerst bei Kalabrien? Na?

Richtig, an die ehrenwerte Gesellschaft - die 'Ndrangheta (ist kalabrisch und heißt soviel wie "stolzer Mann")

Und da hatten wir Glück, dass unsere begleitende (deutsche) Landeskundige schon seit 24 Jahren dort unten lebt, und wohl auch ziemlich wissbegierig ist. So hat sie selbst auch schon mal einen örtlichen Don interviewt um mehr zu erfahren. (namens Don Chicho, oder so ähnlich)

Ich versuche mal, ihre Ausführungen hier wieder zu geben.

Anders als in Sizilien und Neapel (Cosa Nostra und Camorra) entstammt die kalabrische 'Ndrangheta nicht den Adeligen und Großgrundbesitzerclans, die sich als Staat im Staate ihre Pfründe gegen die aufständischen Bauern sichern wollten, sondern einer Art Graswurzelbewegung. Die beiden erstgenannten Organisationen sind älter, und wohl Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, als es zwischen Bourbonenherrschaft und Risorgimento in Süditalien ein bissl drunter und drüber ging.

Zu der Zeit war Kalabrien noch mafiafrei. Die kalabresische Bevölkerung unterstützte auch den Kampf Giuseppe Garibaldis für die italienische Einigung gegen die Fremdherrschaft. Die Bauern verstärkten und versteckten die aufständischen Briganten. Als diese dann erreicht war (wohl ca 1860), wandten sich jedoch die siegreichen Italiener gegen die süditalienische Bevölkerung.

Ab hier beißen sich jetzt die Angaben unserer Führerin mit den Geschichtsartikeln aus der Wikipedia, aber ich will ja ihre Darstellung, die sie aus Gesprächen mit der Bevölkerung und Freunden bezieht, wiedergeben. Sie wies auch explizit darauf hin, dass die offizielle Geschichtsschreibung von den Siegern verfälscht wurde, und erst vor 1 -2 Jahren eine öffentliche Diskussion mit wieder aufgetauchten Dokumenten begonnen hätte, die die überlieferte Darstellung der Kalabreser bestätigen.

Angeblich gab es also eine Volksabstimmung, ob das Land eine Monarchie oder eine Republik werden sollte, wobei sich Süditalien für die Republik entschied. Das geeinte Land wurde aber als Monarchie geführt, und die einstmals Verbündeten aus dem Norden begannen nun, den Reichtum Süditaliens auszubeuten.
Ich habe dafür keine Belege gefunden, aber in der Legende war das ehemalige Königreich Neapel durchaus wohlhabend, und es gab angeblich auch eine Eisenhütten-Industrie die so toll war, dass der russische Zar diese in seiner Heimat irgendwo 1 zu 1 nachbauen ließ. Irgendeine wichtige Eisenbahnstrecke bestand wohl auch aus diesem Neapel-Stahl.

Na, jedenfalls wurde im Süden nun alles "abgewickelt", wie wir sagen würden, und im Norden neu aufgebaut. Der Süden blutete an Menschen und Geldern aus (hohe Steuerbelastung, Wirtschaftsförderung im Norden).

Die übrig gebliebenen Aufständischen und die Bevölkerung blieben nun weiter im Widerstand, diesmal gegen die italienische Regierung. Daraufhin gab es eine oder mehrere Strafexpeditionen, denen ca 100000 Kalabreser zum Opfer fielen.
Die ehemaligen Briganten gingen in den Untergrund und betätigten sich nunmehr als Robin Hoods, die den Reichen nahmen und den Armen gaben. So die Legende von den Ursprüngen der kalabresischen Mafia.

Als Mussolini dann an die Macht kam (interessanterweise in den Ausführungen stets kumpelig "Benito" genannt), hatte dieser eine Begegnung mit einem Boss der sizilianischen oder neapolitanischen Mafia, der seiner Macht besonders sicher war. "Benito" fand das nicht so prickelnd und ließ den Kampf gegen die beiden großen Organisationen intensivieren, woraufhin ein Großteil der Mafia-Elite sich in die USA absetzte. Der kalabresische Vorläufer der Mafia war damals noch zu klein und unbedeutend.

Ohne die große Konkurrenz konnte sich die Organisation allerdings ungestört entwickeln. Man ging auch dazu über nicht mehr nur Gutes für die Bevölkerung zu tun, sondern auch für die eigene Tasche.
Als nach Mussolini nun die alten Mafiosi wieder verstärkt Fuß zu fassen versuchten, war Kalabrien für sie schon eine tote Zone. Fest in der Hand der nunmehr starken Organisation namens 'Ndrangheta.

Wie leben nun die Kalabreser heute mit ihrer organisierten Kriminalität?

Ambivalent. Die Mafia hilft dort, wo der Staat versagt. Vielmehr hat sie, wenn gewünscht, die Macht zu helfen. Wer in den teils korrupten Wirrnissen der italienischen Bürokratie kein Land mehr sieht, kann sich auch vertrauensvoll an den örtlichen Boss wenden. Allerdings steht man dann in dessen Schuld, was durchaus auch unangenehme Gegengefallen nach sich ziehen kann.

Ansonsten lässt man die kleinen Leute in Ruhe. Die Gewaltkriminalität in Kalabrien ist wohl auch sehr sehr niedrig, weil die Mafia flächendeckend präsent ist, und ihre Augen und Ohren überall hat. Man kennt alle seine Schäfchen und möchte Ruhe im Stall haben.
Auch erhebt die 'Ndrangheta keine Schutzgelder von kleinen Händlern, sie hängt sich nur in die großen Geschäfte rein.
Wenn jemand (ein genanntes Beispiel) ein Pizzeria in seinem Heimatort aufmachen möchte, so kann er das auch einfach ohne Nachfragen tun. Sollte er aber dasselbe in einem fremden Ort tun wollen, so muss er dort mit den drei wichtigsten Personen sprechen. Dem örtlichen Bürgermeister, dem Priester, ... und mit dem zuständigen Boss natürlich. Wird man sich mit letzterem einig, dann steht dem Geschäft nichts mehr im Wege.

Für mich persönlich war die folgende ausdrückliche Beteuerung sehr beruhigend: Touristen stehen explizit unter dem besonderen Schutz der Mafia (sofern man sich anständig benimmt natürlich). Urlauber bringen nicht nur Geld ins Land, sondern auch Prestige - da soll es ihnen auch gefallen, so dass sie nur Gutes berichten, und noch mehr Touris anlocken. Man kann also getrost seinen Mietwagen offen stehen lassen, oder mal vergessen den Rucksack richtig zu schließen - es wird keiner Hand an dein Eigentum legen. Eine Frage der Ehre! Und natürlich der Angst von Kleinkriminellen vor den richtigen Gangstern.

Überhaupt die Ehre. Die 'Ndrangheta unterscheidet sich angeblich noch in einem Punkt sehr von ihren nahen Verwandten. Es geht hier nicht nur um profane Geschäfte, sondern eben auch um Mannesehre und übersteigerten Machismo. Deshalb ist sie, wenn einmal verärgert oder gar in der Ehre gekränkt, auch besonders brutal. Hat wohl etwas mit einem gewissen historischen Minderwertigkeitskomplex zu tun, resultierend aus der sowieso abschätzig betrachteten süditalienischen (unterentwickelten), und vor allem noch der bäuerlichen Herkunft.

Ein Beispiel für die wirklich totale Kontrolle der Organisation über das Land hatte unsere Begleiterin auch noch persönlich erlebt. Ihrem Sohn war irgendwo sein Portemonnaie abhanden gekommen, was diesen sehr bestürzt hatte weil sich darin ein besonderes Erinnerungsstück befand. Suchen half nichts, das Ding war weg. Verloren, gestohlen - weg.
Etwa drei Wochen später bekam sie einen Anruf auf ihrem privaten(!) Handy von den Carabinieri aus einem 30 km entfernten Ort. "Ob sie die Reiseleiterin XY sei?" Ja? "Ist YZ ihr Sohn?" Ja. "Sein Portemonnaie wurde bei uns abgegeben, sie könne es sich abholen."

Also ich wüsste nicht, wie die Polizei an meine Handynummer kommen sollte, und dass eine Brieftasche mit allen Ausweisen und Karten darin in eine 30 km entfernte Stadt zum Abgeben gebracht würde, wage ich auch zu bezweifeln. Da kennt man halt auf irgendeinem Wege jeden, keiner kann sich den Augen und Ohren der Organisation entziehen. Kann auch mal von Nutzen sein, solange man ein ehrbarer Bürger ist - sogar für ansässige Ausländerinnen gilt das.


Ich will das hier nicht romantisieren, und ich glaube, auch die Kalabreser sehen die 'Ndrangheta nicht unbedingt als Sahnestück ihres Landes. Wir sollen auch nicht vergessen, dass auf einen Mafioso auch tausend ehrliche Kalabreser kommen. Aber die Geschichte fand ich doch sehr interessant, und vielleicht interessiert sie auch den einen oder anderen Leser hier.

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